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"Nibelungen" als Poptheater: DJ Wotan am Mikro

Foto: Matthias Horn

"Nibelungen" als Poptheater Hier kommt Siggi Stargast

Brunhild und Siegfried zwischen Spice Girls und "Star Wars": Am Hamburger Schauspielhaus beamt Clemens Sienknecht die alte Heldensage mit Pop und Witz in einen neuen Kosmos.

Ob der Regisseur Clemens Sienknecht beleidigt wäre, wenn man ihn einen Nerd nennen würde? Man kann sich jedenfalls wunderbar vorstellen, wie er als Teenager auf dem Schulhof, wann immer jemand eine Geschichte erzählte oder von einem Problem berichtete, das Ganze mit dem passenden Song kommentierte. Die Freundin hat Dich verlassen? "If you leave me now..." Die Schwester nervt? "Hey little sister..."

Sienknecht, der ein Musikstudium abgebrochen hat, ist ganz offensichtlich eine wandelnde Jukebox. Und Nerd ist ja oft nur ein anderes Wort für Genie: Der Mann kann nicht nur Songs nachspielen, er komponiert auch selbst und spielt mindestens ein Dutzend Instrumente.

All diese Talente setzt der Hamburger schon seit 1993 als Bühnenmusiker ein, aber erst mit "Effi Briest - allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie" hat er 2015 am Hamburger Schauspielhaus die perfekte Form dafür gefunden. Der Abend war zum Theatertreffen eingeladen und ein solcher Publikumshit, dass er auf die große Bühne des Theaters wechselte. 2017 folgte "Anna Karenina", auch das ein Renner.

Und nun also ein weiterer Abend nach dem gleichen Prinzip: Sienknecht und sein Ensemble fingieren eine Radiosendung, die eine berühmte Geschichte zum Thema hat, diesmal sind es "Die Nibelungen". Der Rahmen der Radioshow rechtfertigt, dass der Musikanteil mindestens so groß sein muss wie der Textanteil (und macht das Ganze hinreißend kurzweilig).

Für jede Situation der richtige Popsong

So singen etwa Kriemhild und Siegfried (Ute Hannig und Sienknecht selbst), nachdem sie zueinander gefunden haben, gemeinsam "Wannabe" von den Spice Girls: "Tell me what you want...", während Gunther (Yorck Dippe) nach der erfolglosen Hochzeitsnacht mit Brunhild in Bee-Gees-Stimmlage jammert: "Tragedy!" Merke: Es gibt keine Situation zwischen Himmel und Erde, zu der es nicht den passenden Popsong gibt.

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"Nibelungen" als Poptheater: DJ Wotan am Mikro

Foto: Matthias Horn

Dabei muss man als Zuschauer die Story der Sippe am Hof von Burgund nicht kennen, um mitzukommen - Sienknecht und seine Truppe spielen die wichtigsten Szenen der Story nach. Dazwischen tragen sie den Fortgang der Handlung auch mal schlicht an der Rampe stehend vor oder versammeln sich um den Plattenspieler, um andächtig der sonoren Märchenonkel-Stimme von Michael Prelle zu lauschen, der ein weiteres Kapitel der Geschichte erzählt. Das Ganze wird gegliedert durch bizarre Verkehrsmeldungen über Sechs-Meter-Staus, "Nachrichten aus drei Jahrhunderten" und live eingesungene Werbejingles, am Mikrofon Michael Wittenborn alias DJ Wotan.

So schaffen es Sienknecht und seine Autorinnen Barbara Bürk und Sybille Meier, in weniger als zwei Stunden die ganze Nibelungen-Sage durchzunehmen: von Gunthers Eroberung Brunhilds, bei der ihm Siegfried ("Siggi Stargast") heimlich hilft, von der Entdeckung dieses Betrugs, von der Empörung der Frauen über diese miese Nummer bis hin zu Kriemhilds blutiger Rache, bei der die ganze Sippe am Ende zugrunde geht.

Die Nibelungen als Sternenkrieger

Mal sprechen die Nibelungen dabei mittelhochdeutsch, mal in geschwollenen Friedrich-Hebbel-Versen, mal schnoddrig-heutig. Auch die Musik wechselt munter zwischen allen Zeitebenen, wobei Sienknecht, geboren 1964, eindeutig eine Vorliebe für die Discobeats der späten Siebziger hat. Auch die Bühne und die Kostüme von Anke Grot sind, von den braunen Kunstledersesseln bis zu Kriemhilds blonder Fönwelle, allerschönste Seventies. Das Studio erinnert mit all seinen blinkenden Knöpfen und grün schimmernden Bildschirmen an die Kommandozentrale von Captain Kirk, auch die Nibelungen verwandeln sich zwischendurch in Sternenkrieger; wohl weil für Sienknecht als Kind dieser Zeit "Star Trek" und "Star Wars" prägend waren.

Das geht nicht nur optisch erstaunlich gut auf - Grot stellt smarte Querverbindungen her zwischen spacigen Raumanzügen, glitzernden Disco-Jumpsuits und schimmernden Ritterrüstungen - sondern auch inhaltlich: Es ist der ewige Kampf zwischen Gut und Böse, der hier wie dort gefochten wird, und die Familiengeheimnisse mit ihren fatalen Folgen bestimmen immer wieder auf ungute Weise die große Politik.

So leicht und ironisch seine Show wirkt, so ernst nimmt Sienknecht doch die Handlung. Das gehört zu seinem Erfolgsgeheimnis. Persiflage und Hommage halten sich nicht nur musikalisch die Waage - eine Gratwanderung, die sonst nur noch Christoph Marthaler beherrscht, der Meister und Erfinder dieses Genres. Sienknecht hat seit 1993 immer wieder mit ihm zusammengearbeitet.

Besonders deutlich wird das in den "Nibelungen - allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie" bei Brunhild, in der Szene nach der Nacht, in der Gunther sie (mit Siegfried unter der Tarnkappe) endlich besiegt hat. Lina Beckmann spielt eine gedemütigte, gebrochene Frau, deren Raubtiergebrüll sich in einen stummen Schrei verwandelt hat. So ganz ohne den weihevollen Kitsch drumrum wird klar wie selten: Was da in der Nacht stattgefunden hat, war nichts anderes als eine Vergewaltigung.

Wenn man verfolgt hat, wie sehr sich etwa die Nibelungenfestspiele in Worms schwer tun damit, die uralte nordische Sage als zeitloses, für die Gegenwart irgendwie noch relevantes Stück zu behaupten, dann wird man Sienknecht und sein Ensemble zu ihrem Abend nur noch ein bisschen mehr bewundern. Am Ende kündigt das Team an: als Nächstes wird die Bibel in eine Radioshow verwandelt. Gut gelaunter Applaus.


"Die Nibelungen - aber mit anderem Text und auch anderer Melodie": Deutsches Schauspielhaus Hamburg, nächste Vorstellungen am 5., 12. und 24. Oktober, www.schauspielhaus.de